Die Lunte am Geschäftsmodell

Warum Innovationen überlebensnotwendig sind

 

Ich bin kein Apologet des Neuen – eher bin ich Skeptiker. Skeptisch gegenüber denen, die radikal Neues fordern, suche ich lieber nach dem Guten, was es zu bewahren gilt. Ich hege häufig den Verdacht, dass Unternehmensentscheider dem „Action Bias“ unterliegen; ihr Aktionismus lässt sie im Bedrohungsfall besser aussehen. Ihre Devise: Schnell handeln! Dann kann ihnen später keiner den Vorwurf machen, sie hätten nichts getan – auch wenn es das Falsche gewesen sein mag. Sich eine längere Zeit der genauen Beobachtung zu gönnen, wird in den Führungsetagen eher nicht als Tugend angesehen. Der Handelnde gilt als stark, der Abwartende als zögerlich. Zu Recht fragen Sie sich gerade, warum dann ausgerechnet ich als vorsichtiger Bewahrer über Innovationsdruck schreibe. Ganz einfach: weil er existiert!

 

Über 1,3 Millionen Einträge führt meine Google-Suche zum Stichwort „Innovationspreis“ auf – jedes Bundesland und jede Branche vergibt sie, und bald wird auch jedes Unternehmen und jede Institution einen Innovationspreis ausloben. Die Suche nach „Fortschrittspreis“ hingegen bringt es nur auf 900 Einträge. Naturgemäß begünstigen Fortschritt und Innovationen einander, aber das Innovations- scheint das Fortschrittsdenken abgelöst zu haben. Fortschritt prägte das Weltbild der westlichen Moderne und ist das Banner des Industriezeitalters. Er impliziert eine stetige, lineare und meist auch planvolle Entwicklung – die vielbesagte Beständigkeit des Wandels. 

 

Innovation bedeutet Bruch, etwas radikal Anderes und Neues, einen Quantensprung der Entwicklung sozusagen. Innovationsdenken scheint passender für das digitale Zeitalter, wo uns Vernetzung und Big Data oft exponentielle Entwicklungen bescheren. Der Begriff „Innovation“ wird inflationär auch von der Werbung genutzt, um neue Produktfarben, Geschmackssorten oder Öffnungsmechanismen von Packungen einzuführen. Über diese marktschreierische Version zur Vermarktung und Oberflächenkosmetik schreibe ich im Folgenden nicht. Mir geht es um die Veränderung des Wirtschaftsgeschehens durch die Digitalisierung. Keine Branche und kein Unternehmen wird davon verschont bleiben. Die digitale Transformation ist gewissermaßen die Lunte, die an jedem Geschäftsmodell liegt. Und je nachdem, wie Unternehmen sich ihr gegenüber verhalten, werden sie von ihr hinweggefegt oder in eine nachhaltige Zukunft befördert.

 

Oktober 2017
Tammo F. Bruns
Das gesamte Magazin mit Quellennachweisen kann hier angesehen werden:
Die Lunte am Geschäftsmodell
Die Lunte am Geschäftsmodell

Die digitale Revolution
Weltweit nutzen schon über zweieinhalb Milliarden Menschen das mobile Internet1 und haben damit nicht nur gleichberechtigten Zugang zu Wissen in Echtzeit, sondern auch Zugriff auf einen weltweiten Markt von Dienstleistungen und Produkten. Ihre Bedürfnisse wollen immer schneller befriedigt werden und sie kaufen dort, wo sie das für ihre Zwecke beste Produkt und den bestmöglichen Service erhalten. Digitale Technologien haben die Art und Weise verändert, in der Produkte und Dienstleistungen erstellt, beworben, verteilt und gebraucht werden. Sogenannte Disruptoren rollen damit ganze Branchen und Märkte auf. Im wirtschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnet man Unternehmen als Disruptoren, die mit neuem digitalem Geschäftsmodell die Erfolgsserie etablierter Verfahren unterbrechen und sukzessive bestehende Dienstleistungen und Produkte verdrängen (engl. „disrupt“ = „zerstören“, „unterbrechen“).
Gleichzeitig veralten die bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten immer schneller und die Lebenszyklen von Produkten und Unternehmen verkürzen sich. Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von „Standard & Poor's 500"-Unternehmen 1958 noch 61 Jahre, so lag sie 2012 bei 18 Jahren, errechnete Richard N. Foster von der Yale University. Wir haben ja selbst erlebt, wie die Musikindustrie, die Medienwelt, der Einzelhandel und die Touristikbranche durch digitale Geschäftsmodelle aufgerollt wurden. Banken und Versicherungsunternehmen, der Bildungs- und Gesundheitssektor werden als nächstes folgen. Und mit dem Internet der Dinge und der Industrie 4.0 wird sich die Konsumgüterproduktion radikal verändern. 

Das alles setzt angestammte Unternehmen unter Druck. 2016 empfanden laut einer Studie der Staufen AG 73 Prozent der 183 befragten deutschen Industrieunternehmen einen starken Innovationsdruck. In der Elektronik sind es sogar 90 Prozent. Größe und Effizienz bieten keinen Schutz mehr. Was lange Zeit als sicher galt – Banken brauchen Schalter, Versicherungen erfordern Berater, Schuhe möchte man beim Kauf anprobieren, ein Stromlieferant muss Strom herstellen, ein Taxiunternehmen braucht einen Fuhrpark, ein Ferienwohnungsanbieter benötigt Immobilien –, gilt heute nicht mehr. Die beunruhigende Frage ist: Wer oder was gerät als nächstes in den Mahlstrom des digitalen Wandels? Niemand möchte zu den Verdrängten, Überflüssigen oder Langsamen gehören. 

 

Unternehmerisches Umdenken gefragt
In der Vergangenheit sind Unternehmen vor allem gewachsen durch Effizienzsteigerungen, also die Verschlankung ihrer Strukturen und Abläufe, oder durch   Fusionen und Zukäufe. Die damit verbundenen Skaleneffekte schaffen strategische Spielräume zur Preisreduktion und damit zum Ausbau der Marktanteile. Die betriebswirtschaftlichen Fragen bisher lauten: Wie kann ich Kosten senken, mein Geschäft ausbauen, dasselbe woanders machen? Diese Fragen bleiben relevant, retten aber nicht das Geschäftsmodell. Das Wachstum der Zukunft ist softwaregetrieben. Denn auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden zugeschnittene Software und die darauf basierenden Dienstleistungen – ob integriert ins Produkt oder zusätzlich – definieren, wie sich ein Produkt von anderen unterscheidet, welche Anwendungsmöglichkeiten es hat und wie benutzerfreundlich es ist. 

Entscheidend ist heute nicht so sehr das Was, sondern das Wie. Die Idee ist noch keine Innovation. Innovation bedeutet Erneuerung, und die resultiert aus einer Idee, die in marktfähige Produkte, Leistungen oder Prozesse überführt wurde. Ein kurzer Blick auf die viel zitierten Disruptoren im Markt verdeutlicht die Einfachheit der anfänglichen Geschäftsideen: Warenverkauf online (Amazon, Zalando), private Ferienunterkünfte mieten (Airbnb), private Fahr- und Lieferdienste buchen (Uber, Lieferando) oder Nachrichten mit Freunden teilen (Facebook, WhatsApp, Snapchat). Die Ideen sind simpel und sicher hatten viele genau die gleichen. Sie liegen schlicht auf der Hand, da die Digitalisierung sie jetzt ermöglicht. Nicht die Idee aber entscheidet über den Erfolg. Erfolg hat, wer die Kraft, den Mut und die Ausdauer besitzt, diese Idee auf die Straße zu bringen, also den langen und steinigen Weg der Umsetzung beschreitet, bei dem nicht immer klar ist, was dabei herauskommt und ob es auch gutgehen wird. Krisen sind hier vorprogrammiert: Finanzierungshürden, rechtliche und technische Rückschläge, Reglements und Standards, Mitarbeiterabgänge oder neue Wettbewerber in der selben Nische – um da durchzuhalten, braucht es viel Motivation. 

 

Wo und warum hängen wir hinterher?
Deutschland war und ist immer noch gut, wenn es um technische Innovationen geht. Wir verstehen uns auf Produkte, Mechanik, Auto- und Maschinenbau, Biotechnik etc. Mit Stolz können wir zurückschauen auf ein Jahrhundert voller ingenieursgetriebener Erfindungen, die unsere Arbeit, unsere Mobilität und unsere Haushalte verändert haben. Bei technischen Erneuerungen hat Deutschland oft eine Führungsrolle, im Dienstleistungsbereich hingegen – in dem auch bei uns mittlerweile fast drei Viertel aller Beschäftigten tätig sind – hängen wir hinterher. Deshalb sind die Disruptoren bislang eher ein amerikanisches Phänomen. Die zehn bekanntesten sind alles US-Unternehmen: Facebook, Google, Apple, Amazon, Twitter, WhatsApp, Instagram, Napster, Netflix, YouTube. Und unter den 100 beliebtesten Apps in Deutschland finden sich nur 20 deutsche. Eine PwC-Studie für den amerikanischen Markt hat festgestellt, dass amerikanische Unternehmen den Schwerpunkt ihrer Investitionen von der Forschung und Entwicklung (F&E) von Produkten auf die Entwicklung von Software und Services verlagern. Analog hierzu sei die Nachfrage nach Elektroingenieuren und Maschinenbauern rückläufig, während zunehmend Software-Entwickler, Programmierer und vor allem Datenanalysten und Dateningenieure eingestellt würden. 

Warum fällt das Innovieren von Services deutschen Unternehmen schwerer? Als Berater für Kunden aus der Technologie oder Industrie habe ich immer wieder erlebt, dass vor allem der langjährige Erfolg und die sukzessive Verbreiterung des im Markt akzeptierten Produktportfolios die Chancen- und Potenzialanalyse jenseits desselben verhindern. Einfacher gesagt: Der Produktfokus verengt die Sicht. Die Unternehmen bauen auf den klassischen Produktvertrieb – der Verkauf steht im Zentrum des Handels und der internen Bewertung. Wenn wir in Workshops andere Nutzungsmodelle wie Mieten, Leihen, Abonnieren oder Teilen erwähnen, fällt das vorerst nicht auf fruchtbaren Boden. Diese Optionen sickern nur sehr langsam in die strategischen Überlegungen ein. Bedingt durch die globale Konkurrenz werden aber die Time to Market und die Produktlebenszyklen immer kürzer und die Gewinnmargen immer kleiner. Die derzeit erfolgreichen Modelle basieren auf sehr kleinen Abo-Beträgen, die sich aufgrund der vielen Nutzer zu großen Erträgen summieren.

 

Wie gelingt der Aufbruch ins Ungewisse?
Damit ihre Geschäftsmodelle nicht von der Digitalisierung gesprengt und sie im Mahlstrom des digitalen Wandels aufgerieben werden, müssen Unternehmen neben ihrem Tagesgeschäft also Raum schaffen für die Erkundung des Neuen, um zukunftsweisende Innovationen zu ermöglichen. Hier geht es nicht um das Schielen auf den Wettbewerb, sondern um ein radikales Andersdenken und visionäres Handeln. Nicht das Auto verbessern, sondern die Mobilität neu erfinden.  

Dieses neue, freie, ungeschützte Denken fällt Organisationen schwer. Ihre Strukturen sowie ihr Management zielen ja allesamt darauf ab, eine feste Ordnung zu etablieren, die Unsicherheit, Fehler und Risiko minimiert. Wo ich aber etwas unerhört Neues machen will, kann ich nicht auf ausgetretenen Pfaden wandeln, sondern muss mich ins Ungewisse begeben, muss experimentieren und ausprobieren – ohne Stolpern und Hinfallen, ohne Fehler und Scheitern kann das Neue nicht in die Welt kommen. 

Dies erfordert einen Kulturwandel bei Unternehmensführung wie -mitarbeitenden. Ich erkläre es gern mit der Erde-Mond-Metapher: Die Erde ist das Kerngeschäft, das weiterhin mit den alten Tugenden der Betriebswirtschaft bestellt und betrieben wird, und der umkreisende Mond sind die Teams, Abteilungen, Mitarbeiter, die sich um das radikal neue Geschäft kümmern. Beide gehören zum selben Unternehmen, aber die Kultur auf den Himmelskörpern ist graduell unterschiedlich. Die auf der Erde müssen höchste Effektivität erlangen (exploit) und die auf dem Mond sollen Neues entdecken (explore). Wichtig ist die Verbindung (Erdanziehungskraft), die immer dafür sorgen muss, dass das Neue in der Nähe (Umlaufbahn) und damit realisierbar bleibt.

Dabei sollten Unternehmen die neuen Techniken und Formate im Blick haben, die ihnen Zugriff auf einen globalen Pool von Wissen und Produktionsmitteln ermöglichen: Open-Source-Software, offene Entwicklungsplattformen und Forschungsportale, Patentbörsen, Crowddesign, Crowdfunding, 3D-Druck, das Mieten von Laborplätzen, Maschinen und Geräten sowie Werkstätten etc. Der weltweite Austausch mit Spezialisten dürfte Problemlösungsprozesse enorm beschleunigen, das Teilen von Produktionsmitteln die Fertigungskosten senken, weshalb eine kollaborative Entwicklung das Potenzial birgt, Ideen in Rekordzeit auf den Markt zu bringen.

 

Was kann der Staat beitragen?
Soll die deutsche Volkswirtschaft innovativer werden, ist aber auch der Staat gefragt. Er muss Innovationshemmnisse beseitigen. Und davon gibt es einige. Gerade mittelständische Unternehmen klagen über Regulationswut, zu lange und kostspielige Zulassungs- und Genehmigungsverfahren, fehlendes Wagniskapital, Fachkräftemangel, zu aufwendigen Ideenschutz etc. Der Staat könnte optimieren beim Bürokratieabbau, bei der Rechtssicherheit und der längst versprochenen flächendeckenden Breitbandversorgung. Wichtig wären auch auch eine Stärkung der MINT-Fächer in der Schule und eine Förderung von Originalität und Kreativität in der Bildung. Auf den letzten Punkt möchte ich aus persönlicher Motivation eingehen.

Der rasante, vor allem softwaregetriebene Wandel lässt erworbene Qualifikationen viel schneller – oft schon innerhalb weniger Jahre – veralten und macht immer mehr Jobs überflüssig: Laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Untersuchung des Weltwirtschaftsforums sollen bis 2020 fünf Millionen Arbeitsplätze in den Industrieländern der Computerisierung zum Opfer fallen. Es macht somit wenig Sinn, den Kindern den alten Stoff linear zu vermitteln. Sie müssen vor allem Methoden und Prozesse lernen, durch die neue Ideen und neues Wissen entstehen können. Mein siebzehnjähriger Sohn sagte beim Vergleich seiner beiden bisherigen Schulerfahrungen: „Früher wollten sie immer nur so viel wie möglich in mich hineinkriegen – und jetzt wollen sie das Beste aus mir rausholen.“ Treffender kann ich den Unterschied seiner beiden Schulen nicht beschreiben. Es ist wohl klar, welches Modell wir bevorzugen.